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Normung in China: Wie das Land internationale Standards strategisch mitgestaltet
Ein Interview mit Dr. Betty Xu, Leiterin des Projekts SESEC
© DIN
China hat sich in den vergangenen Jahren zu einem der einflussreichsten Akteure in der internationalen Normung entwickelt. Mit gezielten Reformen und einer nationalen Normungsstrategie treibt das Land die Entwicklung technischer Standards aktiv voran – auch im Hinblick auf den globalen Handel und den grünen Wandel. Wie funktioniert das chinesische Normungssystem? Und wie gelingt die Zusammenarbeit mit Europa? Dr. Betty Xu, Leiterin des Projekts Seconded European Standardization Expert in China (SESEC), gibt im Interview Einblicke.
Dr. Xu, warum ist das SESEC-Projekt für die Zusammenarbeit mit China so zentral?
Das chinesische Normungssystem unterscheidet sich stark von dem der Europäischen Union. SESEC spielt eine entscheidende Rolle dabei, das europäische Verständnis für die Normungspraxis in China und den Austausch darüber zu fördern. Unser Ziel ist es, technische Handelsbarrieren abzubauen und Vertrauen aufzubauen, beides ist essenziell für die Zusammenarbeit zwischen China und Europa.
Wie ist das chinesische Normungssystem aufgebaut und wo liegen die Unterschiede zu Europa?
Das chinesische Normungssystem wurde 2017 reformiert, um es marktorientierter zu gestalten und an das europäische Modell anzugleichen. Seither gibt es fünf Hierarchiestufen:
- nationale Normen
- sektorale Normen
- lokale bzw. regionale Normen
- Verbandsnormen
- Industriestandards einzelner Unternehmen
Nur nationale Normen können verpflichtend sein, alle anderen sind in der Anwendung freiwillig. Im Unterschied zur EU, wo alle Normen freiwillig sind und harmonisierte Normen Vorrang haben, ist das chinesische System komplexer: Überschneidungen zwischen Normen sind schwer zu vermeiden. Unternehmensstandards spielen in China eine größere Rolle als in Europa, sie gelten dort als strategisches Mittel zur Innovationsförderung, während sie in der EU als technische Spezifikationen betrachtet werden. Zu guter Letzt gibt es in China nur eine, in der EU aber drei Normungsorganisationen.
Welche Herausforderungen bestehen in der Zusammenarbeit in der Normung zwischen Europa und China?
Geopolitische Spannungen, wirtschaftliche und politische Unsicherheiten und ungleiche Handelsbedingungen machen die Kooperation komplex. Fragen des Klimawandels sind dringender denn je. Dennoch zeigt China großes Interesse an gemeinsamer Normungsarbeit mit der EU, zum Vorteil beider Seiten.
2021 hat China die „China National Standardization Development Outline“ vorgestellt, was steckt hinter dieser Strategie?
Die Strategie verfolgt ambitionierte Ziele: eine höhere Umsetzungsrate internationaler Normen, Digitalisierung der Prozesse, Qualitätssteigerung durch Feedbacksysteme und einen stärkeren Fokus auf Verbandsnormen. Bis 2025 soll die Umsetzungsrate internationaler Normen auf 85 % steigen. 2024 wurden bereits 60 % der Ziele erreicht und die Entwicklungsdauer nationaler Normen auf 24 Monate gesenkt, fast 90.000 Verbandsnormen wurden veröffentlicht. In Bereichen wie Digitalisierung und Energieeffizienz hat China sichtbare Fortschritte erzielt.
Welche Rolle spielt die Normung im Kampf gegen den Klimawandel?
Eine sehr zentrale Rolle, denn China will bis 2060 CO₂-neutral sein. Normen schaffen hier die Grundlage für verlässliche Technologien – von erneuerbaren Energien bis hin zu emissionsarmen Materialien. So wird Vertrauen geschaffen und die Akzeptanz neuer Technologien gefördert. Ein Aktionsplan vom Juli 2024 sieht unter anderem 70 nationale Normen zur CO₂-Bilanzierung, ein umfassendes System zur Treibhausgas-Auswertung und 100 Pilotprojekte für standardisiertes Kohlenstoffmanagement vor. China will hier auch ethische und soziale Aspekte stärker berücksichtigen.
Welche Themen bleiben für die internationale Normung wichtig?
Normen für neue Technologien wie KI, 6G und Wasserstoff sind noch nicht ausreichend harmonisiert. Das gilt auch für Standards zur Emissionsminderung. Die internationale Zusammenarbeit – etwa über die internationale Organisation für Standardisierung (ISO) und die Internationale Elektrotechnische Kommission (IEC) – ist daher wichtiger denn je.
Ein Blick in die Zukunft: Wohin steuert die Normung in China und Europa?
China wird seine Reform fortsetzen, insbesondere im Hinblick auf den Export und die internationale Anschlussfähigkeit. In Europa sind mit dem EuGH-Urteil zur Zugänglichkeit harmonisierter Normen (Stichwort „Malamud“) Anpassungen möglich. Doch im Kern wird sich das europäische Modell nicht grundlegend verändern.
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