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“Standards sind ein strategischer Innovationsfaktor im globalen Wettbewerb”
Interview mit Prof. Holger Hanselka, Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft
Deutschland ist in Forschung und Innovation stark aufgestellt – das zeigen Spitzenplätze in internationalen Rankings und eine führende Rolle bei Patentanmeldungen. Damit diese Stärke im globalen Wettbewerb auch in marktfähige Innovationen mündet, braucht es beschleunigte Transferprozesse. Die Fraunhofer-Gesellschaft spielt dabei als führende Organisation für anwendungsorientierte Forschung eine Schlüsselrolle und nutzt Normen und Standards gezielt, um neue Technologien in Wirtschaft und Gesellschaft zu verankern.
Über die Chancen Europas im globalen Wettbewerb und die Bedeutung von Standardisierung spricht Prof. Dr.-Ing. Holger Hanselka, Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft, im Interview mit DIN.
In Asien, insbesondere China, werden Forschung und Technik immens seitens der Politik gefördert und finanziert. Wie stehen wir im Vergleich in Deutschland und Europa?
Deutschland und Europa haben eine starke Basis, um im globalen Wettbewerb erfolgreich zu sein. In aktuellen Innovationsrankings kann Deutschland sich noch in den Spitzenplätzen behaupten: so belegt es bspw. beim BDI-Innovationsindikator 2024 den Platz 2 unter ausgewählten großen Industrieländern, ebenso ist Deutschland weltweite Nummer 2 bei den europäischen Patentanmeldungen. Andere Länder, insbesondere China, gehen jedoch mit enormem Tempo voran: China investiert massiv in Großforschungsinfrastrukturen und hat in Bereichen wie Mikroelektronik, Materialtechnologien und Künstlicher Intelligenz eine Spitzenposition erreicht.
Tun Deutschland und Europa genug, um in diesem Wettbewerb mithalten zu können?
Um im globalen Wettbewerb eine führende Rolle einzunehmen, ist technologische Souveränität entscheidend. Europa muss daher seine Abhängigkeiten bei Schlüsseltechnologien reduzieren, Lieferketten diversifizieren und Innovationsökosysteme stärken. Der EU Chips Act oder die Förderung neuer Batterietechnologien sind wichtige Schritte, die aber dringend durch bessere Rahmenbedingungen für den Transfer von wissenschaftlichen Erkenntnisses in die Anwendung ergänzt werden müssen.
Wenn wir in Europa unsere Kräfte bündeln, Synergien schaffen und gemeinsame Strategien entwickeln, haben wir das Potenzial, unsere Wettbewerbsfähigkeit zu sichern – dafür braucht es eine klare, strategische Innovations- und Technologiepolitik, die einen verlässlichen Rahmen setzt, unter anderem in Form von abgestimmten Innovationsstrategien und konzertiertem Vorgehen auf EU-Ebene. Zusätzlich müssen auch auf nationaler Ebene Innovations- und Experimentierräume besser verankert und ausgestaltet werden, etwa mit dem geplanten Innovationsfreiheitsgesetz oder dem Reallabore-Gesetz.
Deutschland steht weltweit im Bereich der Grundlagenforschung immer noch weit vorn. Warum gelingt es oft nicht, den Vorsprung zu halten und die Forschungsergebnisse wirtschaftlich zu verwerten?
Ich würde sogar noch weiter gehen: Deutschland ist von der Grundlagenforschung bis zur anwendungsorientierten Forschung stark aufgestellt und verfügt über ein exzellentes ausdifferenziertes Wissenschaftssystem, das international hoch angesehen ist. Ein wesentlicher Grund dafür, warum Forschungsergebnisse zu langsam in marktfähigen Innovationen münden, sind administrative Hürden, die den Transferprozess verlangsamen. Vereinfachungen bei Nutzung öffentlicher geförderter Infrastruktur, bei Vergabeverfahren oder eine bessere Unterstützung für die Mobilität von Forschenden könnten entscheidend dazu beitragen, Synergien besser zu nutzen und unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit zu stärken.
Ein weiterer Schlüssel liegt in der gezielten Förderung der verschiedenen Transferwege. Unterschiedliche Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen zeichnen sich durch spezifische Schwerpunkte im Transfer aus. Die Potenziale dieser verschiedenen Transferpfade müssen wir differenziert betrachten und gezielt fördern.
Welche Rolle können Normen und Standards dabei spielen, diesen Transfer zu leisten?
Normen und Standards unterstützen den Transfer in zweierlei Weise: Erstens kommen Unternehmen über die Normen, die sie nutzen, in direkten Kontakt mit aktuellen Forschungsergebnissen, wodurch sich neue Technologien effizient in der Wirtschaft verbreiten. Zweitens braucht es einen direkten, intensiven Austausch zwischen Forschung und Wirtschaft. Eine hervorragende Gelegenheit für diesen Austausch ist die Arbeit in Normungsgremien, in denen sich Forschende und Vertreterinnen und Vertreter aus Unternehmen aktiv einbringen. Davon profitieren übrigens beide Seiten: Die Unternehmen erhalten einen Zugang zu unseren Technologien und die Forschung bekommt ein unmittelbares Feedback über die Bedarfe einer Branche. So können wir unsere Technologien besser am Markt orientieren und die damit verbundenen Projekte erfolgreicher machen.
Bei der Anwendung von Forschungsergebnissen geht es mittlerweile verstärkt um Standardisierung – warum ist das Ihrer Meinung nach so?
Standardisierung ist seit jeher ein wichtiger Transferkanal für die Fraunhofer-Gesellschaft. Neu ist jedoch, dass dieser Transfer zunehmend geopolitisch wird: Wie alle Marktteilnehmer nutzen beispielsweise auch China und die USA Standards, um Marktanteile zu gewinnen und gegen andere Wettbewerber zu sichern. Gerade in China hat sich das zu einem zentralen Teil der Wirtschaftsstrategie entwickelt. Unter anderem in Reaktion darauf steigt das Interesse an Standardisierung in Deutschland und Europa derzeit spürbar wieder an.
Ganz grundsätzlich schafft Standardisierung Vertrauen und Akzeptanz für neue Technologien, erleichtert den Marktzugang und die internationale Zusammenarbeit. Durch Standards entstehen aber nicht nur bedeutsame Effizienzvorteile, sondern auch gewisse Abhängigkeiten für all jene, die sich nicht in den Standardisierungsprozess eingebracht haben. Diese Vorteile werden von allen Parteien genutzt. Es heißt nicht umsonst: Man standardisiert – oder man wird standardisiert.
Konkret bedeutet das, dass Standardisierung Chancen bietet, wenn sie als Werkzeug genutzt wird. Gleichzeitig gibt es Risiken in Bezug auf die technologische Souveränität Europas, wenn wir bei wichtigen Prozessen nicht mit am Tisch sitzen und unsere Interessen dort aktiv vertreten. Nicht nur aus diesem Grund sind wir auf die enge Zusammenarbeit mit unseren europäischen und außereuropäischen Partnern angewiesen.
Warum sind Normen oder Standards keineswegs ein „Bremsklotz“, sondern eher eine "Startrampe" für Ideen praxisnaher Forschung und neuer Geschäftsideen?
Normen und Standards sind ein strategischer Innovationsfaktor im globalen Wettbewerb: Sie fördern Innovation durch klare Rahmenbedingungen und erleichtern die Skalierung sowie die Markteinführung neuer Technologien. Standardisierung stellt kein Hindernis dar. Sie sind eine Plattform, die Innovationen fördert.
Einheitliche Grundlagen ermöglichen es, Technologien weltweit zu verbreiten und neue Geschäftsmodelle zu entwickeln. Die globale Zusammenarbeit in Standardisierungsgremien ist deshalb entscheidend, um Wettbewerbsvorteile und Technologievorsprünge zu nutzen – und international auf die Straße zu bringen. Die seit 2022 bestehende Kooperation zwischen DIN und der Fraunhofer-Gesellschaft ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie wichtig es ist, Forschungsergebnisse und Innovationen stark mit Prozessen der Normung und Standardisierung zu verknüpfen.
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