Presse

2021-05-11

„Internationale Technologieführerschaft braucht Führerschaft in der Standardisierung“

European Industrial Strategy

Normung als wichtiges Instrument in der Industriestrategie der Europäischen Kommission

Am 5. Mai 2021 hat die Europäische Kommission die überarbeitete Industriestrategie „Building a stronger Single Market for Europe’s Recovery vorgelegt. In 2020 wurde das Vorgängerdokument Industriestrategie genau einen Tag bevor die WHO den Pandemiefall ausgerufen hat veröffentlicht. Seitdem haben sich die so genannten industriellen Ökosysteme, die die Kommission als besonders wichtig für Europa identifiziert hat, sehr unterschiedlich entwickelt. So ist der Tourismussektor von der Pandemie besonders hart getroffen, während der Digitalbereich einen Boom erlebt. Die Industriestrategie setzt demnach Schwerpunkte auf den Wiederaufbau und die Resilienz der europäischen Wirtschaft.

Relevanz von Normung und Standardisierung erkannt

Anders als im letzten Jahr nimmt die Standardisierung in der diesjährigen Strategie eine wichtige Stellung ein: Den Verantwortlichen in der Europäischen Kommission bis hinauf zu Binnenmarkts-Kommissar Thierry Breton und EU-Vizepräsident Vladis Dombrovskis ist in den vergangenen Monaten die Bedeutung von Normen in unterschiedlicher Hinsicht bewusst geworden. Dabei spielen drei Schlüsselerlebnisse eine Rolle:

  • Am Anfang der Pandemie waren Normen und ihre schnelle kostenlose Bereitstellung durch die nationalen Normungsorganisationen ein wichtiges Hilfsmittel zur Produktion von Schutzausrüstung durch europäische Unternehmen.
  • Als im ersten Lockdown Mitgliedsstaaten ihre Grenzen geschlossen hatten und Barrieren in den europäischen und internationalen Lieferketten auftauchten, trat die handelsöffnende Wirkung von überregionalen Normen positiv hervor.
  • Das dritte Schlüsselerlebnis für die Europäische Kommission war die chinesische Initiative zur Gründung eines Technischen Komitees bei ISO für „Lithium“, ein für die Batterieproduktion wichtiger Rohstoff. Dies hat die Europäische Kommission über die geopolitische Bedeutung der internationalen Normung wachgerüttelt.

Diese Erfahrungen spiegeln sich in den Inhalten der Industriestrategie wider wenn es heißt: „Global leadership in technologies goes hand-in-hand with leadership in standard-setting and ensuring interoperability. Global convergence on the same international standards helps reduce adaptation costs and strengthens EU and global value chains.”

Dabei hat die Europäische Kommission gemäß der politischen Ziele der grünen und digitalen Transformation ganz bestimmte Technologien im Blick: “Be it on hydrogen, batteries, offshore wind, safe chemicals, cybersecurity or space data, our industry needs European and international standards that underpin its twin transition in a timely manner. Establishing global leadership in these key priority standards is also a critical matter for the competitiveness and resilience of EU industries.”

Während der Blick der Europäischen Kommission sich also zunehmend auf das internationale Normungsgeschehen weitet, soll gleichzeitig auch vor der eigenen Haustür gekehrt werden: „For the EU to retain its influence in setting global standards, its own standardisation system, a core of the Single Market, has to function in an agile and efficient way.“  

Maßnahmen mit normungspolitischer Relevanz

Wie soll die Ziele erreicht werden? Die Kommission nennt hierzu vier Maßnahmen:

  1. Die Entwicklung einer Normungsstrategie
  2. Die eventuelle Ergänzung der Normungsverordnung
  3. Die Arbeit in einer gemeinsamen Task Force
  4. Eine intensivierte Vorschau:

“The Commission will present a strategy on standardisation. This will support a more assertive stance on European interests in standardisation (in the EU, its neighbourhood and globally) and in working openly with others on certain areas of mutual interests (e.g. US and Canada on lawful and ethical use of AI). In this context, the Commission will assess whether amendments to the Standardisation Regulation are required to achieve these objectives. A Joint Task Force between the Commission and European Standardisation Organisation (ESOs) will define agreed solutions to adopt in a fast manner those standards identified as crucial. The Commission will also pay particular attention to anticipating standardisation needs that support the twin transition of industrial ecosystems.”

Europäische Normungsstrategie bis zum 3. Quartal 2021

Dies ist bereits die zweite Ankündigung einer Normungsstrategie seitens der Kommission. Nachdem im letzten Jahr im Digitalpaket bereits eine solche für 2020 vorgesehen war, hatten die drei Europäischen Normungsorganisationen ihre Analysen und Empfehlungen eingebracht. Nach der Neuorganisation der Generaldirektion für Binnenmarkt (DG GROW) im Frühjahr 2021 kann man nun davon ausgehen, dass die Ankündigung der Strategie für das 3. Quartal 2021 auch eingehalten wird. Die Entwicklung einer Normungsstrategie durch die Europäische Kommission soll von Konsultationen der Stakeholder und der Normungsorganisationen begleitet werden. Aus Sicht von CEN/CENELEC ist es sinnvoll, das Ziel 1 der „Ambitions 2030“ mit der Normungsstrategie der Kommission zu verbinden. Es lautet “EU and EFTA recognize and use the strategic value of the European standardization system” und strebt ein neues Verhältnis in der Public-Private-Partnership zwischen europäischer Normung und Politik an.

Identifikation strategischer Interessen notwendig

Fraglich ist, wie ein Erweiterung der Europäischen Normungsverordnung dazu genutzt werden soll, europäische Interesse stärker in der internationalen Normung einzubringen. Die Europäische Kommission hat zwar einen Kooperationsstatus in der internationalen Normung bei ISO, Mitglieder mit Entscheidungsmöglichkeiten sind aber jeweils die nationalen Normungsorganisationen. CEN/CENELEC, aber auch DIN und die französische Normungsorganisation AFNOR, sind im direkten Austausch mit der Europäischen Kommission, um Wege zu identifizieren, wie strategische europäische Interessen besser identifiziert und international vertreten werden können. Wenn die internationale Normung von großen Volkswirtschaften zunehmend dazu genutzt wird, geostrategische Interessen durchzusetzen, muss Europa dem etwas entgegensetzen. Es wird also notwendig sein, die gewohnte anwendergesteuerte Herangehensweise der Normung in Europa um einen Ansatz zu erweitern, der die strategische Autonomie und die digitale Souveränität der europäischen Wirtschaft frühzeitig mitberücksichtigt.

Task Force zwischen Kommission und Europäischen Normungsorganisationen in den Startlöchern

Die in der Industriestrategie angekündigte gemeinsame High-level Task Force zwischen Europäischer Kommission und den Europäischen Normungsorganisationen steht in den Startlöchern, um Möglichkeiten zu finden, bereits im Vorfeld der Entwicklung von Normungsaufträgen strukturierter zusammen zu arbeiten. Wenn die Einsichten der technischen Experten frühzeitig berücksichtigt werden, sollte dies idealerweise positive Auswirkungen auf die Umsetzbarkeit von Normungsaufträgen sowie die Zusammenarbeit mit den HAS-Consultants nach sich ziehen. DIN-Vorstandsvorsitzender, Christoph Winterhalter, ist in seiner Funktion Vice-President Policy von CEN Mitarbeiter in der Task Force.

Foresight auf europäischer Ebene

Auch für die vierte angekündigte Maßnahme, der intensivierten Vorschau, hat DIN mit dem unlängst etablierten Foresight Prozess, welcher kommende Normungsbedarfe auf Grundlage von politischen- und Forschungsstrategien identifiziert, ein Angebot. Auch die Plattform STAIR = (STAndards, Innovation and Research) und das Technology Market Watch bei CEN/Cenelec bieten entsprechende Prozesse an.

Neben den oben dargestellten Maßnahmen, gibt es noch einen weiteren inhaltlichen Schwerpunkt in den Standardisierungsplänen der Kommission laut Industriestrategie: Um den von der Pandemie in Mitleidenschaft gezogenen Binnenmarkt resilienter zu machen, sieht die Kommission den Bedarf, den Binnenmarkt für Dienstleistungen zu vollenden. Ein Vorhaben, welches bereits 2006 durch die Dienstleistungsrichtlinie eingeleitet worden war. Auch hier möchte man sich verstärkt harmonisierter Europäischer Normen bedienen, um gerade unternehmensbezogene Dienstleistungen in Bezug auf Qualität, Interoperabilität, Umwelt- und Gesundheitsschutz vergleichbar zu machen.